Suchen:

 

Gedenkkonzert am 6. März 2023

Gedenkkonzert: Der Cäcilienchor gedachte am 6.3.2023 seiner verfolgten Mitglieder.

Konzertarchiv des Cäcilienchors

Geschichte: Unser Konzertarchiv ist seit 21.12.2022 öffentlich verfügbar.

'Liebe und andere Katastrophen' im Sommerbau'

Überwunden: Im Oktober 2021 sangen wir im Mousonturm-Sommerbau vor fast 200 Gästen

Alte Oper in den ukrainischen Nationalfarben

Krieg in der Ukraine: Benefizkonzert am 10. März 2022

Logo des Cäcilienchors

Die „Magna Charta“" und ihre Köpfe

Knapp 16 Monate war der Cäcilien-Verein alt und noch namenlos, als sich das Bewußtsein manifestierte, daß man es ernst mit ihm meinte.

Vier Aufführungen hatte es gegeben – eine Kantate von Schelble und drei Werke von Mozart. Mit der Aufführung von dessen Messe in f-moll in der St.Leonhardkirche war man erstmalig aus dem Rahmen privater Häuslichkeit getreten. Ende 1819 lief Schelbles Bühnenkontrakt aus, so daß er fortan seine Kraft ungeteilt dem jungen Chor widmen konnte. Sänger und Dirigent wußten, daß sie zueinanderghörten, und so wurde Johann Nepomuk Schelble im Alter von 30 Jahren für eintausend Gulden im Jahr festangestellter Chormeister in Frankfurt am Main. Wohlhabende Chorsänger bürgten für sein Einkommen sowie für die Begleichung möglicher Aufführungsdefizite in den kommenden zehn Jahren.

Das Faksimile dieses Vertrags hat den zweiten Weltkrieg überlebt: die „Magna Charta“ des Cäcilien-Vereins - in sorgfältig verklausuliertem Kaufmannsdeutsch mit schwerfälligen Schachtelsätzen abgefaßt, mit großzügig-schwungvol1er, schwer lesbarer Handschrift am 13. November 1819 niedergeschrieben.

Schelble hatbescheiden als letzter unterzeichnet. Vor ihm stehen die Herren Gottlieb Petsch, Philipp Passavant, Wilhelm Manskopf und der Besitzer einer Handschrift mit leider unentzifferbarer persönlicher Note. Außerdem aber – und das ist erstaunlich für eine Zeit, in der Frauen noch nicht emanzipiert waren – fünf Frauen, nämlich: Marianne von Willemer, Charlotte Schmidt-Graumann, Louise de Neufville-Gontard, Emma Passavant-Klimrath und Elise Mumm-Scheibler. Wer waren diese Bürgerinnen und Bürger mit den klangvollen Familiennamen, von denen einige noch heute Straßen der Mainmetropole bezeichnen?

Von den vier Herren ist uns leider nur Philipp Passavant als Persönlichkeit faßbar, er jedoch besonders eindringlich. Offensichtlich verkörperte er zwei meist einander ausschließende Geistes- und Lebenshaltungen: Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann und ein auf vielen Gebieten bewanderter Schöngeist zugleich. Von Schelble ließ er sich im Klavierspiel unterrichten, und auf weiten Geschäftsreisen studierte er mit Vorliebe die bildende Kunst. Er zählt zu den Mitbegründern der Museumsgesellschaft ebenso wie zu den fünf Administratoren der 1819 gegründeten Städelschen Stiftung. Als uneigennütziger Mäzen förderte er alle Künste und viele Künstler. Dem Cäcilien-Verein ermöglichte er 1820 die erste Aufführung mit Orchester, Händels „Alexanderfest“. Enge Freundschaft verband ihn mit zwei Vettern, dem Maler und Kunsthistoriker Johann David Passavant, und dem Arzt Johann Karl Passavant, der aufsehenerregende Forschungsergebnisse über den Lebensmagnetismus veröffentlichte. Während Philipp Junggeselle blieb, finden wir die Frau von Johann Karl in der ersten Vereinsprobe als Altistin. Philipps Schwägerin aber, die Frau seines Bruders und Geschäftspartners Christian, ist keine andere als die Mitunterzeichnerin der „Magna Charta“, Emma Passavant-Klimrath, eine gebürtige Straßburgerin.

Die Bedeutung der familiären und freundschaftlichen Verflechtungen der musik- und kunstliebenden Frankfurter Bürger jener Zeit kann man wohl kaum überschätzen. Was Wunder in einer Stadt, die 1817 41.000 Ein­ wohner zählte! Daß diese Zahl schnell wuchs, dafür sorgte unter anderen auch der Vereinsbegründer, Bankier und Hobby-Landwirt Gottlieb Petsch. Immerhin wurden sieben seiner neun Kinder groß. Sein Sohn Philipp machte sich als Musikliebhaber um die Errichtung des Saalbaus verdient.

Zu Beginn des Jahrhunderts war auch der „Kranz der Damen“, die „im Rufe des Schönen und Interessanten“ standen, überschaubar. Jügel nennt in seinen Erinnerungen als eine von ihnen Elise Mumm-Scheibler. Zumindest fehlte es ihr nicht an Mut. Denn Bettina von Arnim erzählt über einen Besuch ihres Bruders, des Dichters Clemens Brentano, bei den Mumms: „Frau Mumm kam ohne Unterrock, nur in einem dünnen Muslinkleid zum Vorschein, weil es sehr heiß war.“ Kurz darauf jedoch „überhäufte“ Clemens die Dame, die laut Jügel „als schönster Schmuck der Gesellschaft glänzte“, „mit Grobheiten“. Er hatte nämlich einen fruchtlosen Bekehrungsversuch zum Katholizismus bei der Schönheit gemacht.

Die standhafte Protestantin war die Gattin des Kaufmanns und Weinhändlers Gottlieb Mumm aus der Linie der Schwarzenstein, königlich­dänischer Konsul seines Zeichens. 1822 hatte er sich auf dem Johannisberg im Rheingau angebaut und das dortige Gut begründet. Wenn in unseren Tagen der Cäcilien-Verein beim Rheingau-Festival auf den Höhen der Rebhänge von Winkel singt, tut er dies also an einer Stätte, an die seine ureigensten Wurzeln reichen.

Am besten unterrichtet sind wir natürlich über Marianne von Willemer, Goethes „Suleika“, über die wir an anderer Stelle berichten. Charlotte Schmid-Graumann ließ sich als Schwester der bekannten Pianistin Dorothea v. Ertmann identifizieren, die in Wien mit Beethoven befreundet war und dessen Klaviersonaten zum Durchbruch verhalf. Die Schwestern Graumann entstammten einer Frankfurter Kaufmannsfamilie, und Charlotte hatte selbstverständlich wieder einen „Handelsherrn“ geehelicht, mit dem sie in der Hochstraße wohnte.

Ihre Sangesschwester und Mitunterzeichnerin der „Magna Charta“ Louise Gontard, lebte als Frau de Neufville am Roßmarkt direkt neben dem Hotel „Englischer Hof“.

Es geschah nach einem Besuch im Hause von Louises Vater – im neuerbauten Gontardschen „Gartenhaus“ in der Bockenheimer Landstraße –, daß Madame de Staël den oft zitierten Scherz tat, in Frankfurt hießen alle Leute Gontard. Ähnliches hätte sie freilich auch von den anderen Familien französischer Herkunft sagen können, die mit der frühen Geschichte des Cäcilien-Vereins aufs engste verbunden waren, wie den de Neufvilles oder den Passavants. Sie, die Gontards und die aus dem Nassauischen stammende Weinhändlerfamilie Manskopf waren durch Heirat mehrfach und nahezu unentwirrbar miteinander versippt.

Wilhelm Manskopf, der Mitbegründer des Cäcilien-Vereins, war mit einer Cousine von Louise vermählt, mit Henriette Gontard. Und noch einmal schwebt die Muse der Dichtkunst im Hintergrund des Geschehens. Denn Henriette war eine Tochter von Susette Gontard, die der Dichter Friedrich Hölderlin als Diotima besang.


Sicher nicht von ungefähr ereignete sich die Gründung des ältesten Frankfurter Oratorienchores in jener Sternstunde der Geschichte, in der bedeutende Musiker, Dichter und bildende Künstler im deutschsprachigen Raum gleichzeitig wirkten und die Kultur zu hoher Blüte entfalteten. In der weltoffenen, lebendigen Stadt am Main gingen Handelsgeist und Liebe zur Kunst ein beispielhaftes Bündnis ein. Die Begeisterung, die einst die Gründer – Kaufleute, Bankiers und vor allem ihre Frauen – beseelte, hat den Cäcilien-Verein durch sechs Generationen bis heute getragen.

Eva Zander, 1993